Literaturtipp - Dezember 2015 Holocaust - eingebettet in eine heutige Geschichte

Von Ulrich Noller

Wie kann man heutzutage noch vom Holocaust erzählen? Kann man überhaupt noch vom Holocaust erzählen? Man kann, mit Witz und Gefühl, so wie der New Yorker Autor Boris Fishman in seinem Debütroman "Der Biograf von Brooklyn".


Boris Fishman: Der Biograph von Brooklyn
Bild 1 vergrößern +

Kann man überhaupt noch vom Holocaust erzählen, ist dazu nicht alles schon doppelt und dreifach gesagt worden? Man kann, mit Witz und Pfiff und Gefühl, so wie der New Yorker Autor Boris Fishman in seinem Debütroman "Der Biograf von Brooklyn" (Blessing, Euro 19,99).

Und zwar so: Slava Gelman, um die 30, arbeitet für ein New Yorker Magazin. Sein Traum ist es, ein bekannter Publizist zu werden. Einstweilen wartet dieses Ziel allerdings noch in weiter Ferne, Slava ist für eine Hilfsarbeit bei der Witzeseite zuständig. Bislang ist sein Leben nicht eben eine Erfolgsgeschichte. Immerhin, er hat es geschafft, sich von der übermächtigen Familie zu lösen, wegzugehen aus Brooklyn, in Manhattan zu leben. Dann kommt ein Anruf, Slavas Oma ist gestorben. Das war's mit der Freiheit und mit der Unabhängigkeit für ihn, es geht zurück nach Brooklyn, mitten hinein in den Wahnsinn der Familie - und des Immigrantenmilieus weißrussischer Auswanderer, die ihr Viertel niemals verlassen, für die schon Manhattan eine weit entfernte, fremde Welt ist.

Einwanderergeschichte und Großstadtleben

Allen voran Slavas etwas irrer Großvater, und der hat nach dem Tod seiner unendlich geliebten Frau ein dickes Problem: Sie hat kurz vor ihrem Tod beim Fonds für die Holocaust-Opfer in Deutschland eine Entschädigung beantragt. Was noch fehlt, ist die Begründung, man muss ja anhand seiner Lebensgeschichte genau erklären, warum man berechtigt ist. Der Opa möchte auf die mutmaßlich hübsche Summe nicht verzichten, und da er einen Enkel hat, der immerhin "Schriftsteller" ist, dachte der Alte, dass der Junge, Slava, die Begründung ja schreiben könne. Das Ganze funktioniert, und plötzlich hat der - eher unwillige - Biograf von Brooklyn noch diverse andere Senioren aus der Community am Hals, denen er in einer Mischung aus Fakten und Fiktion ihre Entschädigungs-Geschichte schreibt. Was Slava nicht weiß: Sein Großvater macht gutes Geld mit dem Ganzen, für jeden erfolgreichen Antrag kassiert er im Namen des Enkels 500 Dollar.

Und so kommen drei Ebenen zusammen: Die Geschichten der Holocaust-Überlebenden, die er entschädigungsgerecht getrimmt hat. Die Geschichte der Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR, speziell aus Weißrussland, in die USA. Und das New Yorker Großstadtleben eines etwas neurotischen jungen Mannes, der sich eigentlich um jeden Preis aus dem Spinnennetz seiner Herkunfts-Community lösen möchte und doch immer wieder eingefangen wird von den Prägungen, denen er sowieso nicht entfliehen kann.

Boris Fishman, geboren 1979, wanderte selbst samt Familie aus Weißrussland in die USA ein, als Neunjähriger - er weiß also, wovon er schreibt. Wie Fishman schreibt, das ist bezaubernd: "Der Biograph von Brooklyn" ist ein toll komponiertes, stilsicheres, gewitztes Debüt mit Witz, Pfiff und Gefühl. So kann man vom Holocaust erzählen - er bleibt wach und in Erinnerung, und trotzdem ist er eingebettet in eine absolut heutige Geschichte.



Stand: 16.12.2015, 17.00 Uhr