Interview mit Slavoj Žižek: "Etwas Gutes ist in Gefahr"
Sie trägt den Titel "Der Klassenkampf" und stammt aus der Feder des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek: eine neue Streitschrift über die Ursachen der europäischen Krise, über die Wurzeln von Terror und Gewalt. Im Interview argumentiert Žižek lebhaft gegen den seiner Meinung nach scheinheiligen Krieg gegen den IS - und für die europäische Idee der individuellen Freiheit.
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Slavoj Zizek
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- Audio: Massimo Maio im Gespräch mit Slavoj Zizek (12:42 min.) Ohne Sendungsnamen
Flucht und Terror haben eine Schnittmenge, meint der slowenische Philosoph Slavoj Žižek, beides hängt - unter anderem - mit den Wirkungen des Kapitalismus zusammen, der durch die Globalisierung zu einem weltweiten Kapitalismus wurde, der Lebens- und Kulturräume zerstört. Und der Terror und Flucht auslöst. Gegen die Fluchtbewegung helfe nur eines: Ihre Ursachen zu beseitigen. Slavoj Žižek fordert "einen neuen Klassenkampf", eine Solidarität mit den weltweit Entrechteten und Ausgebeuteten. Wir brauchen, meint er, einen Plan, um wieder Herr über das Chaos zu werden, das der Kapitalismus angerichtet habe. "In meiner Jugend nannte man solch einen organisierten Versuch, das Gemeingut zu regulieren, Kommunismus. Vielleicht sollten wir ihn neu erfinden."
Funkhaus Europa: Sie haben sich zu den Terroranschlägen von Paris geäußert und haben den Umgang damit kritisiert - Sie haben zum Beispiel die Solidaritätsbekundungen als pathetisch und heuchlerisch bezeichnet. Welchen Umgang mit solchen Terrorattentaten würden Sie sich denn wünschen?
Slavoj Žižek: Ich hege keine Sympathien für den Islamischen Staat. Aber ich frage mich: Was machen wir eigentlich hier? Schauen Sie, was wirklich passiert. Wenn der IS kein Öl mehr verkaufen könnte, wäre das vom IS eroberte Territorium wirklich isoliert. In wenigen Monaten wäre alles vorbei, und das ohne Bomben.
Ich denke, die Tragödie ist die: Es ist nicht wirklich ein Konflikt zwischen uns, also den aufgeklärten Mächten, und dem Islamischen Staat. Es werden andere Kämpfe im so genannten Krieg gegen den Terror ausgefochten. Einerseits geht es hier immer mehr um den geopolitischen Einfluss zwischen Westeuropa und den USA auf der einen und Russland und China auf der anderen Seite. Andererseits spielt sich der gewalttätigste Kampf unter den Muslimen selbst, zwischen den Sunniten und den Schiiten, ab. Die Türkei spielt hier ein doppeltes Spiel. Offiziell hat sich das Land dem Krieg gegen den Terror angeschlossen, aber eigentlich toleriert es den IS. Und darüber hinaus benutzt die Türkei den Krieg gegen den Terror, um Militärdruck auf die Kurden auszuüben. Die Kurden bleiben dann die einzigen, die wirklich den IS bekämpfen.
Meine Position hier ist eine andere als die übliche linksliberale, die lautet: Wir sollten nicht mit Terror gegen den Terror ankämpfen, Krieg ist keine Lösung... Die Frage ist für mich vielmehr: Meinen wir wirklich den Krieg gegen den Terror? Nein, tun wir nicht. Das ist eine Maske für andere schmutzige Kompromisse.
Funkhaus Europa: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass letztlich die Terroristen Verlierer des Kapitalismus sind, genauso wie die Rechtspopulisten - und zeigen Verbindungen auf zwischen den Islamisten und den Rechtspopulisten; beide kommen aus einem faschistischen Gedankengut heraus. Vor wem haben Sie mehr Angst?
Slavoj Žižek: Was Europa betrifft, habe ich mehr Angst vor Rechtspopulisten. Sie sind die wirkliche Bedrohung. Auch wenn eine oder zwei Millionen Muslime nach Europa kommen: Wenn Europa seinem emanzipatorischen Kern treu bleibt, seiner Liebe für die Freiheit, die persönlichen Rechte, den sozialen Staat, dann würden uns Terrorangriffe nur mobilisieren, uns noch selbstbewusster machen. Davor habe ich keine Angst.
Aber stellen Sie sich ein Europa vor, in dem Le Pen oder Pegida die herrschende Macht sind. Wäre das das aufgeklärte Europa, das wir lieben? Nein, das wäre ein anderes Europa. Das ist die wahre Bedrohung für Europa. Um es überspitzt zu sagen: Das wahre Problem in Europa ist, dass wir, die Europäer, die größte Bedrohung für uns selbst darstellen.
Funkhaus Europa: Lassen Sie uns auf den Kapitalismus zu sprechen kommen. So, wie es bei Ihnen klingt, sind wir alle in Gefahr, Verlierer des Kapitalismus zu werden.
Slavoj Žižek: Es ist nicht so, dass ich den Kapitalismus verteufle. Aber wenn ich auf die wirtschaftlichen Ursachen der Flüchtlingsströme schaue, dann sehe ich sie auf zwei Ebenen. Zunächst die Auswirkungen des globalen Kapitalismus auf viele Länder der Dritten Welt. Nehmen wir zum Beispiel den Kongo, ein nicht funktionierender Staat. Das Land ist im Chaos, es gibt unglaublich viele Tote, Kindersoldaten und so weiter. Gleichzeitig ist das Land Teil des globalen Kapitalismus. Lokale Stammesführer verkaufen ihre mysteriösen Mineralien und Diamanten auf dem Weltmarkt. Der Kongo ist heute das perfekte Beispiel für die zerstörerischen Effekte des globalen Kapitalismus.
Eine andere Ebene ist, dass unsere militärischen und politischen Interventionen für die Lage mitverantwortlich sind. Ich bin da nicht sehr originell, sogar viele Konservative sagen heute: Ohne die schlecht geplante amerikanische Besatzung im Irak gäbe es heute keinen Islamischen Staat. Ohne die europäische und amerikanische Intervention in Libyen gäbe es nicht so viele Flüchtlinge. Auch Syrien ist kein interner Konflikt, sondern ein Schlachtfeld der internationalen Mächte.
Auf lange Sicht müssen wir das internationale Funktionieren des Kapitalismus ändern. Ich bin kein Utopist, ich denke nicht, dass wir direkt in den Kommunismus übergehen sollen. Aber auch innerhalb des Kapitalismus müssen sich die internationalen Wirtschaftsbeziehungen ändern. Und wir müssen eine neue Formel für militärische Interventionen finden.
Funkhaus Europa: Sie haben einige Länder erwähnt, in denen das System nicht funktioniert, und immer mehr Probleme betreffen auch Europa; die Trennung zwischen Europa und dem Rest der Welt scheint sich aufzulösen. Heißt das, dass wir letztlich alle irgendwann die Verlierer sind in diesem System?
Slavoj Žižek: Auf lange Sicht auf jeden Fall. Trotzdem sage ich etwas, womit ich die Wut vieler pathetischen Linken auf mich ziehe: Ich denke, der erste Schritt für Europa ist, mit den Selbstbeschuldigungen aufzuhören. Nicht immer dieses: Wir sind an allem schuld. Alle sagen heute, Europa verfällt, es ist träge. Aber mein Gott, wenn Millionen Menschen hierher kommen wollen, dann kann Europa nicht so schlecht sein.
Ich denke, hier geht es nicht nur um den hohen Lebensstandard. Die Menschen sehen hier etwas, was es in den anderen reichen Ländern nicht gibt, zum Beispiel in den autoritären Ländern im Fernen Osten oder im liberalen anglo-sächsischen Kapitalismus. Es ist die Idee der individuellen Freiheiten und Menschenrechte, aber in Verbindung mit dem sozialen Staat, mit der sozialen Solidarität. Es ist etwas Einzigartiges in dieser europäischen Idee und ich denke, wir sollten darauf stolz sein. Wir haben etwas, was wir der Welt anbieten können.
Etwas Gutes ist in Gefahr. Ich glaube, Europa ist vom globalen Kapitalismus bedroht. Wie wird Europa in 20 oder 30 Jahren aussehen? Fahren Sie heute nach Paris oder Venedig, und Sie werden Tausende Touristen dort sehen. Trotzdem haben diese Orte keine wirtschaftliche oder politische Relevanz. Wenn sich ganz Europa so entwickelt, wird das sehr traurig. Nicht nur die Europäer werden etwas verlieren, sondern die ganze Menschheit - nämlich diese kostbare emanzipatorische demokratische Idee.
Funkhaus Europa: Da höre ich heraus, dass Sie sich mit Europa und seinen Werten sehr identifizieren…
Slavoj Žižek: Absolut - aber als Linker, nicht mit diesen konservativen Werten gegen die Einwanderer. Die multikulturelle Toleranz war eine große Europäische Idee, die aus dem Dreißigjährigen Krieg resultierte. Auch die radikalen linken Projekte sind Teil des europäischen Erbes. Europa ist nicht am Ende, wie die Kritiker des Eurozentrismus behaupten. Auch die kulturellen Kämpfe, die wir heute ausfechten, wie zum Beispiel die Kämpfe um die Rechte der Homosexuellen oder das Recht auf Abtreibung, diese stammen aus Europa.
Das gefährlichste Phänomen, das aus dem antikolonialen Kampf entsteht, ist das erneute Behaupten der traditionellen patriarchalischen Autorität. Zum Beispiel will Boko Haram in Nigeria als politische Bewegung die ganze Gesellschaft umbauen und ihr zentraler programmatischer Punkt ist es, die Frau zu unterdrücken. Oder nehmen Sie die Reaktion aus Putins Russland auf den Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest. Mein Gott! Eine Frau mit Vollbart! Die Grundlagen unserer Zivilisation sind in Gefahr!
Sehen Sie, die europäische Freiheit steht für etwas Zentrales heute. Wir sollten beide Sachen zusammen ausfechten. Auf jeden Fall sollten wir den Flüchtlingen helfen. Aber wir sollten unsere Freiheiten auf keinen Fall aufgeben.
Stand: 17.12.2015, 13.00 Uhr
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