Der Soundtrack von... - Ana Tijoux Aufmerksam und selbstbewusst

Ana Tijoux aktuelles Album "Vengo" ist ihr bisher stärkstes Werk. Kompromisslos, vielseitig, ein geniales hin und her Pendeln zwischen HipHop und Pop. Damit hat sich die Franko-Chilenin in Lateinamerika einen Namen gemacht, die im "Soundtrack von… - Ana Tijoux" von ihrem spannenden Leben erzählt.


Musikerin Ana Tijoux während eines Interviews
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Musikerin Ana Tijoux

Ana Tijoux ist 1977 geboren, drei Jahre nach dem Beginn der Pinochet-Diktatur in Chile, vor dem ihre Eltern nach Frankreich fliehen mussten. Sie kam in Frankreich zur Welt und verbrachte dort ihre Kindheit. Als Jugendliche ging sie mit ihrer Familie zurück nach Chile und musste sich dort vielen kulturellen und sprachlichen Herausforderungen stellen.

In den 90er Jahren wurde sie als MC der Latin-Formation Makiza bekannt, fing 2006 eine Solokarriere an und sang Latin-Pop.

Mit ihrem aktuellen Studioalbum "Vengo" kehrt sie zu ihren Wurzeln zurück. In ihren Texten thematisiert sie soziale Missstände, die Musik sehr ausgefeilt. Nicht nur die Politik inspiriert sie zu ihren Texten, auch große französische Schriftsteller beeinflussen ihr Schaffen bis heute.

Wer bist du?

Mein Name ist Ana Maria Tioux. Mein Künstlername ist einfach Ana Tijoux, ich bin Chilenin, geboren in Frankreich, aber meine beiden Eltern sind auch Chilenen. Ich bin als Jugendliche wieder zurück nach Chile gekommen. Ich mache Musik und bin Sängerin, ich komponiere und schreibe meine Songs selbst. Und ich bin Mutter.

Welches Album hat dein Leben verändert?


Susana Baca steht lächelnd vor einem Spiegel
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Susana Baca

Es gibt so viele Alben, die mein Leben verändert haben und es wäre falsch nur eins zu nennen. Die Alben von Susana Baca gehören auf jeden Fall zur Auswahl meiner Legenden. Aber manchmal macht es für mich keinen Sinn, jemanden als Legende zu bezeichnen. Susana ist für mich super lebendig. Musikalisch gesehen, mit ihrer Arbeit ist sie für mich präsent. Neben anderen Musikerinnen ist sie eine unserer Musen, weil sie eine oder zwei Generationen vor uns war.

Welches Album oder welcher Künstler können dich zum weinen bringen?

Ryuichi Sakamoto bringt mich zum Weinen. Leider kann ich mir keine Album-Namen merken. Er ist ein japanischer Komponist und berührt mit seiner Musik etwas in mir, das ich nicht einmal erklären kann. Aber es macht mich hochemotional. Ich muss das Hören von Ryuichis Musik gut dosieren, sonst müsste ich die ganze Zeit weinen.

Wenn du eine Zeitmaschine hättest, zu welchem musikalisch historischen Moment würdest du zurückgehen wollen?

Es gibt so viele wundervolle Orte, an die ich mit einer Zeitmaschine hinreisen würde. Auf jeden Fall zu einer Jazzsession mit Coltrane oder Charlie Parker. Ich weiß aber nicht, ob ich mitspielen würde. Einfach nur zu erleben, wie die ganze Bebop und Jazzmusik angefangen hat - also gar nicht aktiv dabei sein, sondern als Zuschauerin.

Welche Platte hat dich neuerdings besonders überzeugt?


Hiatus Kaiyote: "Choose Your Weapon"
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Hiatus Kaiyote: "Choose Your Weapon"

Eine Band aus Australien hat mich wirklich unheimlich begeistert: ich bin ein großer Fan von Hiatus Kaiyote! Seit zwei Monaten höre ich ihre Musik non stop. Alle zehn Minuten muss ich an Hiatus denken, live und auch akustisch. Meine ganze Band ist verrückt nach ihnen. Sie sind eine der besten Gruppen, die ich jemals gehört habe. Sie brechen einfach alle Gesetze und auch das Tempo - sie sind einfach unglaublich!

Wie sieht die Zukunft der Musik aus?

In der Zukunft müsste man erstmal Mainstream-Musik abschaffen. Mich macht es sehr traurig zu sehen, wie der Mainstream die Musik einfach tötet. Und es hat auch gar nichts mehr mit Musik zu tun. Es gibt so viele unglaubliche Musiker aus allen Stilen: Flamenco, Rap, afrikanische Musik aus Mali, Underground-HipHop, lateinamerikanische Musik, Musik aus den Anden. Es ist einfach traurig zu sehen, wie im Fernsehen immer nur über die zwei bis drei gleichen Menschen berichtet wird, die alle das gleiche machen. So viel guter Musik wird gar kein Platz gegeben. Es ist sehr traurig, dass junge Menschen so etwas mit Musik verbinden. Das erste, was ich in der Zukunft machen würde, wäre Fernseher abzuschaffen, damit Menschen überhaupt wieder diese ganze wunderschöne Musik hören und darauf reagieren können. Und diese Musik gibt es hier auf diesem Planeten, irgendwo wird das alles gerade gespielt. Das wäre mein Traum. Ich finde, dass die Realität sehr gewalttätig ist. Und Gewalt, die akzeptiert wird, ist das schlimmste!

Welches Album wird dich immer begleiten?

Ich würde nie auf die Platte "Siembra" von Ruben Blades und Willie Colón verzichten. Es ist ein Salsa-Album. Ruben Blades gehört zu meinen Lieblingssängern. Er kommt aus Panama und ist sehr bekannt. Ich kenne das Album seitdem ich zehn Jahre alt bin und höre bis heute noch! Es ist witzig, meine älteren Kinder jetzt zu erleben, wie sie das Album hören und die Texte mitsingen.

Welches Album kann dich an einen imaginären Ort versetzen?

Wenn ich mit meinem Kopf woanders hinreisen will, dann höre ich Youssou N´Dour. Es gibt da ein Album von ihm mit fünf Songs, einer davon heißt "Allah". Wenn ich das Album höre, dann springe ich förmlich aus meinem Bett und lande irgendwo im Senegal. Natürlich weiß ich auch hier nicht, wie der Titel das Album heißt, ich bin wirklich die schlechteste, wenn es darum geht!

Kannst du deine Verbindung zu Frankreich beschreiben?

Ich bin in Frankreich geboren und habe da gelebt, bis ich ein Teenager war. In dem Land habe ich meine Bildung genossen und ein Klassenzimmer mit Freunden aus dem Kongo, Kamerun, und Nigeria geteilt. Mit der Zeit habe ich verstanden, was "Multikulturalismus" bedeutet, also sich mit Menschen aus anderen Teilen der Welt anzufreunden, auch mit Menschen, deren Länder kolonialisiert wurden. Ich bin sehr dankbar, dass ich all diese tollen französischen Schriftsteller wie Robert Desnos und die ganzen Surrealisten kennenlernen konnte. Davon bin ich großer Fan und ich hoffe, sie haben mich in meinem Schaffen beeinflusst.

Du hast mit Quantic den Song "Doo Wop" von Lauryn Hill gecovert. Wie war es, mit ihm zu arbeiten?


Der Soundtrack von... - Quantic
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Die Zusammenarbeit mit Quantic war eine wunderschöne Erfahrung. Er ist ein sehr guter Freund. Wir haben uns vor zwei Wochen wiedergesehen und werden bald wieder zusammenarbeiten. Ich bewundere Quantic wirklich sehr. Es ist seine sehr natürliche Art. Wir haben uns per E-mail kennengelernt, ich kannte vorher schon seine Musik und er auch meine. Wir haben uns dann immer geschrieben und dann irgendwann das erste Mal getroffen - das war wie Liebe auf den ersten Blick.

Wie war es für dich, von Lille nach Paris und dann nach Chile zu ziehen?

Zurück nach Chile zu kommen war für mich sehr hart. Ich bin zurück in ein Land gekommen, das wie ein Geisterland für mich war. Ich musste erst einmal verstehen was Chile für ein Land ist, die Kultur, die Musik, wie die Leute sich angezogen haben, die Stimmung nach der Diktatur. Das ist alles nicht leicht für eine Jugendliche. Aber ich glaube deswegen bin ich schneller erwachsen geworden. Ich musste dann auch lernen, gut das chilenische Spanisch zu sprechen und keinen Akzent zu haben, um meine Wurzeln dort fest zu verankern.

Du bist für deine politischen Texte bekannt. Welche Themen sind dir besonders wichtig?

Ich finde, heutzutage muss man nur die Zeitung aufschlagen und man findet genug politische Themen, über die man Songs schreiben kann. Jeder Künstler ist auch ein bisschen sensibel für solche Stimmungen. Jetzt gerade könnte ich gar nicht sagen, zu welchem politischen Thema ich den nächsten Song machen würde. Was ich ziemlich bemerkenswert finde, ist, dass sich die Methoden der Polizeirepression überall auf der Welt ziemlich ähneln. Wenn man sich auf Facebook die Videos anschaut, die Menschen von überall auf der Welt teilen: die Polizeigewalt aus Ferguson, Baltimore, in Chile, der Türkei, Italien oder auch in Spanien. Es ist immer die gleiche politische Repression, es gibt eigentlich keinen Unterschied. Das könnte ein Thema sein. Die gleiche Sprache der Unterdrückung die in allen Ländern gesprochen wird.

Inwiefern bist du politisch?

Für mich ist alles ist politisch. Deine Liebesbeziehung oder jede andere Beziehung - dort zeigt sich, wie du denkst und wie du handelst. Solidarität, Gemeinschaft oder Verbindlichkeit.

Du hast mal gesagt "hip-hop is the land of the people that doesn’t have a land". Was meintest du damit?

Zum jetzigen Zeitpunkt der Globalisierung leben wir in einer Zeit der Über-Kommunikation. Jeder ist irgendwie verbunden. Auch Musik verbreitet sich viel schneller als je zuvor. Das ist vielleicht eine sehr persönliche Perspektive: Aber HipHop hat mich als Migrantin in Frankreich repräsentiert: meine Fahne, mein Land, meinen Geist, meine Probleme. Es hat fast eine Funktion der Katharsis. Alle meine Freunde, die zu der Zeit HipHop gehört haben, hatten ähnliche Lebensbiografien und Probleme. Geboren in Frankreich, die Eltern aus dem Kongo oder Algerien, und sie selbst gehörten der zweiten oder dritten Generation an. Es ist das gleiche wie mit den Chicanos in Los Angeles. Es ist eigentlich wie überall, wo viele Migranten leben. Das sind die Länder, in denen viel HipHop produziert wird - es ist wirklich universal geworden, auch in Afrika und Lateinamerika. Vorher in Frankreich, in den USA, in Deutschland - die ganze Szene in diesen Ländern ist voll von Migranten. Jetzt breitet sich der Sound auch in Russland oder Japan und überall anders aus.

Wovon handelt der Song No Más?


Ana Tijoux: Vengo
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Ana Tijoux: Vengo

Den Song "No Más" haben wir für das Album "Vengo" gemacht. Es geht um Gentrifizierung. Es ist eine Reflektion über ein Problem, das überall existiert. Nicht nur in Europa, sondern auch in Chile. Wir kennen das alle: wenn Menschen aus ihren Häusern geräumt werden und ihren Stadtteil verlassen müssen, weil dieser Bezirk zum Trend wird und Hipster anzieht. Dann gibt es die Mafia der Bauunternehmen - die kommen und bauen alles voll und nehmen auch keine Rücksicht auf die Geschichte eines Stadtviertels. Für mich war es wichtig, mein Viertel wieder zurückzuerobern. Denn wenn die Nachbarschaft einmal getrennt wird, dann wird auch die Gemeinschaft gespalten und damit auch die Möglichkeit der Selbstorganisation. Das kann man überall beobachten!

Wovon handelt der Song Vengo?

In dem Song "Vengo" spreche ich darüber, dass ich komme, um die Welt noch einmal mit ganz anderen Augen zu sehen als ich es zum Beispiel in der Schule gelernt habe. Ich bin auf die Idee gekommen, weil ich jetzt mit fast 40 gemerkt habe, dass ich mich an so gut wie nichts mehr erinnern kann, was ich in der Schule gelernt habe. Ich meine, natürlich habe ich vieles gelernt, aber ich meine das ganze Auswendiglernen. Meine Frage ist: hat mir das eigentlich die richtigen Fertigkeiten mitgegeben, mit denen ich diese absurde Welt richtig verstehen kann?


Stand: 18.12.2015, 13.13 Uhr



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