Der Soundtrack von... - Chilly Gonzales Pop-Master of Ceremonies

Im "Soundtrack von... - Chilly Gonzales" lüftet der Pianist und Pop-Professor die Geheimnisse hinter Popsongs, die wir alle kennen und erzählt, wie er für sein eigenes Leben im HipHop neue Perspektiven entdeckt hat.


Chilly Gonzales
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Chilly Gonzales aka Jason Charles Beck ist ein musikalischer Grenzgänger. Eigentlich war er klassisch ausgebildeter Pianist. Dann gab er sich den Namen Chilly Gonzales und wollte die Popwelt erobern. Zuerst von Berlin aus, mit seinen Landsleuten aus Kanada, mit dabei u.a. Feist, die inzwischen selbst zu so etwas wie einem Popstar aufgestiegen ist.

Chilly lebt nun in Köln und kann ein Portfolio mit zahlreichen unterschiedlichen eigenen Releases und Kollaborationen vorweisen: Soft Pop, Piano-Studien, ein Rap-Album, Elektronisches und zuletzt Kammermusik auf dem Album "Chambers". Dazu Klaviermelodien für Daft Punk und Drake und Produktionen für Jane Birkin und das Serge Gainsbourg-Biopic.

Er selbst verfolgte immer zwei Ziele: der beste Pianist sein nach Franz Liszt und ein Rapper sein wie sein Vorbild Busta Rhymes, der ihn nicht nur zu seinem Künstlernamen inspiriert hat. Für das letztere, etwas gewagte Ziel fand er ausgerechnet in Helge Schneider jemanden, der ihm Mut gemacht hat.

Das Klavier führte den nerdigen Mittelklasse-Jungen Jason Beck aus Toronto ins Rampenlicht, dort ist sein Spiel inzwischen genauso gefragt wie seine brillanten Analysen zeitgenössischer Pop- und HipHop-Songs.

Wer bist du und was bedeutet dir Musik?

Hallo, ich bin Chilly Gonzales. Ich bin Pianist, Entertainer und ein Ex-Musikgenie. Musik ist für mich Kommunikation. Aber Kommunikation ist kompliziert, weil sie oft eine Mischung aus Wahrheit und Quatsch ist. Für mich muss Musik überraschend und befriedigend zugleich sein.

Was ist deine erste schöne Erinnerung an Musik?


Chilly Gonzales
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Mein Großvater war mein erster Klavierlehrer. Er hat meinen Bruder und mich vor das Klavier gesetzt und gesagt: "Dies ist ein wichtiges Element dieser Wohnung, ihr müsst es respektieren und auch die Menschen, deren Namen auf den Büchern stehen - Bach und Beethoven. Er war ein sehr strenger europäischer Snob in Kanada, der seine alte Heimat Ungarn sehr vermisst hat. Er wollte, dass wir unseren europäischen Ursprung nicht vergessen und führte uns deshalb in die etwas einschüchternde Welt der klassischen Musik ein. Aber ich habe es genossen, ihm beim Klavierspielen zuzuhören, ich habe eine sehr schöne Erinnerung daran, wie er meinem Bruder und mir das Können dieser großen Musiker zeigt: Bach, Beethoven, Brahms und so weiter.

Was ist das Schöne an Klassischer Musik für dich?

Wir müssen verstehen, dass es einfach Erfindungen gab im 15. und 16. Jahrhundert, die auch heute noch relevant sind. Im Barock wurde Musik zu etwas, das die Menschen auch zu Hause gemocht haben. Das war eine Erfindung von Johann Sebastian Bach, denn er wurde beauftragt, Kirchenmusik zu schreiben, die die Menschen, die zur Kirche gehen, miteinschließt. Das war der Ansatz der Lutheraner, die haben gesagt: "Die Kirchgänger sollen MIT den Mönchen singen, MIT dem Orgelspieler - alle sollen zusammen singen." Bach's Musik musste einfach genug sein, sodass alle mitsingen konnten. Sie musste einen hohen Wiedererkennungswert haben, sodass die Menschen sich daran erinnern konnten. Dies ist der Beginn von Musik als Mittel der Kommunikation und als Form der Unterhaltung.

Was ist das Schöne an Popmusik?

Das Schöne am Pop ist, dass er sich immer weiterentwickelt mit den Mitteln, die wir alle kennen in neuer Zusammenstellung. Aber wahre Originalität ist eigentlich unmöglich.

Welches Album hast du dir als allererstes gekauft?

Das erste Album, das ich mir gekauft habe, war "Welcome to the Pleasuredome" von Frankie Goes To Hollywood. Ich habe einen älteren Bruder, und wie alle jüngeren Brüder musste ich immer auf den Musikgeschmack meines Bruders reagieren. Er mochte Muckermusik wie zum Beispiel von Sting. Meine Reaktion war: "Joah, Sting ist ganz okay." Aber als ich meinen eigenen Geschmack gefunden hatte, stand ich auf die Sänger, die ein bisschen böse waren. Ich mochte Frankie Goes To Hollywood, schaut euch deren Sänger Holly Johnson an, der sieht doch aus wie ein böser Superheld. Irgendwie gestört, eine satanische Kreatur, die dich zur Dekadenz verleitet, sehr sehr interessant. Und ich mochte Morrissey von The Smiths, er war so kompliziert und seine Texte sprachen mich an, den depressiven Außenseiter-Teenager. Ich hab nicht gerafft, dass Holly Johnson oder Morrissey schwul waren. Aber ich fand die Sänger musikalisch anziehend, die etwas anders waren. Heute weiß ich: das lag daran, dass - weil sie schwul waren - zu Außenseitern wurden. Und ich mochte Außenseiter, weil ich selbst einer war. Ohne zu wissen, warum sie Außenseiter waren, spürte ich ihre Entfremdung, ihre Zerissenheit, ihre Kombi aus Humor und Bitterkeit - all dies ist auch Teil meiner eigenen Musik heute. Sie haben mich sehr beeinflusst.

Wie war deine Schulzeit?

Also ihr habt schon gemerkt, ich war nicht grade beliebt in der Schule. Aber ich konnte dann doch noch verhindern, zum Außenseiter zu werden, weil ich Klavier spielen konnte. Ein gutaussehender Klassenkamerad kam zum Beispiel zu mir und sagte: "Hey ich möchte gern "I Don't Like Mondays" von den Boomtown Rats singen um mein Mädchen zu beeindrucken, kannst du Klavier dazu spielen?" Ich setzte mich ans Piano und ließ ihn so wie einen guten Sänger dastehen. Wenn seine Stimme zu tief war, änderte auch ich die Tonart. Sie brauchten mich also und ich konnte meinen sozialen Status verbessern.

Welches war der erste Popsong, den du je gespielt hast?


Phil Collins
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Phil Collins

Den ersten Popsong, den ich je gespielt habe, war "Against All Odds" von Phil Collins. Nur das Riff: "Da Da DaDaDa Da." Ich erinner mich noch, ich war 12 oder 13 Jahre alt und hab mit einem Freund Tischtennis gespielt im Urlaub in Palm Springs. Im Radio lief dieser Song. Das war der Moment, in dem ich merkte, dass ich jetzt rüber zum Klavier gehen könnte und den Song nachspielen könnte. Mein Ohr war inzwischen so gut, dass ich ein Stück, nur wenn ich es hörte, fast perfekt nachspielen konnte. Denn ich wusste, wie das Stück auf dem Klavier aussah, und ich konnte, was ich im Radio gehört hab, in mein Gehirn übersetzen. In diesem Moment hat sich das angefühlt wie eine musikalische Superkraft! Ich hatte ein gutes Gehör und das ist das Allerwichtigste, wenn man Musiker ist, weil du dann verstehst, was sich hinter der Musik versteckt. Und daraus hab ich dann eine Karriere gemacht - allen Widrigkeiten zum Trotz.

Welcher ist der schwerste Song, den du je gespielt hast?

Ein geniales Stück Musik ist für mich etwas, dass sich erst einfach anhört, aber dass seine Raffinesse entfaltet, wenn du versuchst, es nachzuspielen. Das kommt manchmal auch für mich überraschend, obwohl ich so ein analytischer Mensch bin. Auf Parties bin ich ja oft sowas, wie eine menschliche Karaoke-Maschine. Am Ende setze ich mich immer ans Klavier und meine Freunde rufen mir zu "Spiel das Lied! Oder das!" und dann singen wir zusammen. Als sich ein Freund mal "Suburbia" von den Pet Shop Boys gewünscht hat, bin ich aber an meine Grenzen gestoßen. Wie aus dem Nichts gibt es in dem Song versteckte Wendungen und vertrackte Spielereien. Überraschenderweise gilt das für viele Songs aus den 80er Jahren, obwohl die Musik so supereinfach und oberflächlich erscheint - aber es verbirgt sich eine Menge Raffinesse dahinter.

Welche Verbindung hast du zur französischen Musik?

In Frankreich ist Serge Gainsbourg der Künstler, den alle jungen Musiker verehren und über den sie alle ständig reden. Auf mich hatte das eher den gegenteiligen Effekt, wenn ihn jeder liebt, will ich nicht Teil dieses Klubs sein. Ich hab sogar meine Distanz bewahrt, als ich in Paris gelebt habe und mit Jane Birkin zusammengearbeitet habe, seiner Ex-Frau. Schon einige Jahre später wurde ich dann gefragt, ob ich die Klavier-Parts übernehmen könnte in dem Biopic, das sie über ihn gemacht haben. Wenn man im Film den Schauspieler, der Gainsbourg spielt, Klavier spielen sieht, hört man also mein Klavierspiel. Der Regisseur hat mich damals übrigens gewählt, weil er mich in einem Interview hat sagen hören, dass mir Gainsbourg scheißegal ist. Und genau so jemanden hat er gesucht. Weil viele französische Musiker Gainsbourg zu sehr verehren und für die Aufgabe zu nervös wären. Mein Lieblingssong aus der Vorbereitung auf diesen Job war "Boomerang", den hatte Gainsbourg eigentlich für die damals junge französische Sängerin Dani geschrieben. Der Text hört sich fast wie ein Rap an. Später hab ich den Song dann zusammen mit meiner guten Freundin Feist und der 30 Jahre älteren Dani für ein Gainsbourg-Tribut-Album auf englisch nochmal eingespielt.

Wer ist dein Lieblingskünstler aus Deutschland?

Meine liebsten deutschen Musiker sind natürlich die Klassischen, Deutschland hat ja die klassische Musik erfunden. Ich werd die jetzt nicht alle aufzählen. Zuletzt hat mich der im Dezember verstorbene Udo Jürgens sehr inspiriert. Gleich als ich nach Deutschland gezogen bin hat mich dieser große Chansonnier einfach gepackt. Auch weil er zu seinen Zugaben immer im Bademantel rauskam. Daraufhin hab ich gedacht, ich trag einen Bademantel einfach meine ganze Show. Wenn ich jemanden nehmen müsste, der noch am Leben ist, würde ich Helge Schneider wählen, mit dem ich die Ehre hatte, ein paar Konzerte spielen zu dürfen. Wir lieferten uns eine Schlacht am Klavier. Und ich konnte auch einen Einblick in sein Leben erhalten. Für mich hat er etwas typisch deutsches oder Typisches aus dem Ruhrgebiet. Da ist dieser Typ aus einem Teil des Landes, das wie kein anderes für die Arbeiterklasse steht, aber er träumt davon Jazzmusiker zu werden. Das ist so lächerlich, dass es für mich etwas Poetisches hat. Mal im Ernst: was ist mehr das Gegenteil von Jazz als die Kumpels aus dem Ruhrgebiet! Aber er schafft es irgendwie, weil er an seinen Traum glaubt. Das hat mich sehr beeindruckt, mich, einen kanadischen Mittelklasse Juden, der davon träumt, Rapper oder Popstar zu werden. Denn es ist so unwahrscheinlich, dass ich den Sprung vom klassisch ausgebildeten Pianisten bis dahin schaffe. Aber Helge Schneider hat diesen magischen Trick hinbekommen. Also: Respekt für Helge Schneider und seine Träume!

Welche Platte hat dein Leben verändert?

Die Platte, die mein Leben verändert hat war die erste Platte, die mich für Rap Music begeistern ließ. Meine ganze Karriere war irgendwie schwierig, bis hin zu der Zeit, in der ich nach Berlin gegangen bin. Ich konnte mich nicht entscheiden, will ich ein musician's musician sein oder kommerziell. Ein reiner Musiker oder ein Entertainer. Rap war die Lösung. Denn in Rappern sah ich Musiker, die sich nicht entscheiden mussten, sie konnten gleichzeitig kommerziell und avantgarde sein. Mein Türöffner war das Busta Rhymes Album "When Disaster Strikes" und ganz besonders der Song "Put Your Hands Where My Eyes Can See". Eine Offenbarung: Rap konnte verspielt sein und trotzdem musikalisch so weit voraus gegenüber dem, was andere machten. Rhythmisch auch großartig. Er erinnerte mich an die großen Jazzmusiker, von denen ich in der Schule gehört hatte. Zum ersten Mal sah ich, wie Rap die Vergangenheit respektierte und gleichzeitig mit unglaublicher Energie etwas für die Zukunft geschaffen hat, sowas gab es vorher nicht. Die Platte hat mein Leben verändert. Klar ich bin kein Rapper, aber ich bin ein Pianist, der rappt. Und ich geh alles an wie ein Rapper. Auch meinen Namen zum Beispiel, Chilly Gonzales - der ist inspiriert von Busta Rhymes. Ganz klar ein Künstlername, hört sich an wie ein Comic-Superheld. Und ich wollte auch einer sein. Oder ein Super-Bösewicht.

Was ist für dich das beste Rap-Album aller Zeiten?

Für mich kann ein HipHop-Album aus den frühen Nullerjahren nie das beste HipHop-Album aller Zeiten sein. HipHop ist ein so schnelllebiges Genre, das beste HipHop-Album ist immer das aktuellste. Du kannst HipHop nicht ins Museum stecken - Gottseidank! Heute ist das beste HipHop-Album für mich das neue Drake-Mixtape "If You're Reading This It's Too Late". 17 Songs, sehr gutes Rapping, das hat in den letzten Monaten das Internet erobert. Und es wird das beste sein bis das nächste beste HipHop-Album kommt.

Wenn du eine Zeitmaschine hättest, welches historische Ereignis in der Musikgeschichte würdest du dir gern anschauen?

Wenn ich eine Zeitmaschine hätte, würde ich zurückgehen in die 1850er Jahre und mir anschauen, wie Franz Liszt Klavier gespielt hat. Es ist so schade, dass es keine filmischen Aufzeichnungen davon gibt, wie der Mann, der das Soloklavierkonzert erfunden hat, den Frauen im Publikum in die Augen blickt und sie verrückt macht vor Leidenschaft durch sein impulsives Spiel. Dieses Spiel, das alle denken ließ, er sei vom Teufel besessen. Diesen Moment würde ich gerne sehen. Ich möchte den ersten Rockstar der Musik sehen, ich möchte sehen, wie er all das erfunden hat, was wir heute als selbstverständlich erachten. Ohne Franz Liszt gäbe es keinen Pete Townshend oder Jimi Hendrix, keine Gitarrengötter und Phallus-Symbole im Rock'n'Roll. Und es gäbe auch keinen Kanye West, also Rapper mit riesigen Egos. Keine romantischen Helden in Form von gebeutelten Genies. All das kommt von Franz Liszt.

Wo liegt die Zukunft der Musik?


Kanye West
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Die Zukunft der Musik liegt in Menschen, die verstanden haben, dass es um mehr geht als Musik. Menschen, die ihr Leben als Gesamtkunstwerk ansehen. Rapper versuchen das. Kanye West zum Beispiel, den ich selbst gar nicht mag und der für mich der Richard Wagner des Rap ist - also ein Riesenarschloch. Ich mag es lieber, wenn mein Idole auch gute Menschen sind. Aber er hat sein ganzes Leben in eine Art Reality TV verwandelt. Er hat sogar einen Reality TV-Star geheiratet - Kim Kardashian. Sie ist vor allem bekannt für ihren Riesenarsch, der, weil sie ihn für ein Magazin hat ablichten lassen, das ganze Internet erobert hat. Wir sind hier weit entfernt von Musik, was vielleicht etwas traurig ist. Aber hier liegt die Zukunft der Musik, in der Ritze von Kim Kardashians Arsch.

Und nun ein positiver Blick in die Zukunft der Musik.

Ich hatte das Glück für Daft Punk Piano spielen zu dürfen auf "Within" für ihr letztes Album "Random Access Memories". Eine wunderbare Roboter-Ballade. Sie beweist, sie haben ein tieferes Verständnis von Musik als mancher ihnen zutraut, der nur ihre House-Hits kennt. Daft Punk verstehen auch, dass sie eine ganzheitliche Geschichte erzählen mit Musik in ihrem Zentrum. So wie sie ihre Alben konzipieren, welche neue Richtung sie immer einschlagen, wie sie sich vermarkten, welchen Wert bei ihnen Songtitel, Artwork und Videos haben. Bands wie sie haben die Zukunft der Musik in der Hand.


Stand: 22.05.2015, 12.15 Uhr