Literaturtipp - Januar 2016 Seekrank in München

Von Ulrich Noller

Das Leben in der "alten" BRD, vor der Wende, ist derzeit wieder ein großes Thema in der Literatur. Hallgrímur Helgason wagt in seinem Roman "Seekrank in München" einen ganz besonderen Blick auf diese Zeit - autobiographisch, mit isländischer Perspektive.


Hallgrímur Helgason: Seekrank in München
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Hallgrímur Helgason: Seekrank in München

Helgason erzählt von Jung, einem Mann von Anfang 20, der aus Reykjavík nach München kommt, er wollte mal weg aus der drögen Langeweile Islands, hat eher zufällig einen Platz an der Kunstakademie in München bekommen. Na ja, beinahe, erstmal muss er einen Aufnahmetest bestehen, aber davon hat Jung keinen Schimmer, er fährt erstmal hin nach Bayern, spätsommers, im viel zu warmen Wintermantel, mit zwei dicken Koffern; mal schauen, was da dann passieren wird.

Genau genommen, geschieht gar nicht viel in "Seekrank in München" (Tropen, 19,95 Euro): Jung ist unterwegs, er kommt an, er trifft - merkwürdige - Menschen: die Deutschen, die Bayern vornehmlich, er kehrt irgendwann zurück.

Und er begegnet, natürlich, sich selbst. Beziehungsweise: Er ist auf dem Weg, sich selbst zu begegnen, was nicht einfach ist, sowieso nicht in dem Alter, und schon gar nicht, wenn man so drauf ist wie Jung, der einerseits die Klamotten des Großvaters aufträgt, andererseits Punk und Anarchie im Herzen trägt, drittens aber so verunsichert ist, dass er am liebsten irgendwo wäre, nur da nicht, wo er gerade ist.

Was "passiert" in diesem Roman, das ist die Beobachtung, das Zusammentreffen des merkwürdigen Isländers mit den seltsamen Deutschen bzw. Bayern, die Beobachtung auch der engen, strukturierten Gesellschaft der BRD der Achtziger Jahre. Hallgrímur Helgason präsentiert diesen Blick mit staubtrockenem Humor, lakonischen Bildern, feiner Situationskomik - und mit einem Helden, der von einem Schlamassel in den nächsten stolpert. Auch deshalb, weil er unerklärliche Magenprobleme hat und immer wieder eine lavaartige Masse ausspucken muss, die sich bloß dann nicht entzündet, wenn er sie in einem großen Bierglas auffängt, was den Alltag, na ja, mit Hürden versieht.

Hallgrímur Helgason, geboren 1959, Künstler und Schriftsteller, ist einer der eher unbekannten Großen der zeitgenössischen Literatur, und er ist einer der wenigen, die richtig komisch erzählen können, ohne dass es zur hohlen Blödelei wird. Einige Szenen aus "Seekrank in München", insbesondere die mit der Lava des Unbehagens am Leben, gehören zum Besten, was die Literatur in der Hinsicht in den letzten Jahren zu bieten hatte.


Stand: 19.01.2016, 21.00 Uhr