CD der Woche - La Boca Die Lust am Fabulieren

Von Stefan Franzen

Alejandra Ribera ist eine der spannendsten Stimmen der neuen kanadischen Songwriterszene: Tochter eines argentinischen Vaters und einer schottischen Mutter, in Toronto geboren und aufgewachsen, jetzt mit Wahlheimat Paris. Ihr aktuelles Album "La Boca" verzaubert den Alltag.


Alejandra Ribera: La Boca
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Alejandra Ribera: La Boca

Kanada blickt auf eine lange Tradition herausragender Songschreiber zurück, die Namen wie Joni Mitchell, Leonard Cohen oder Jane Siberry umfasst. Alejandra Ribera steht damit in einer prominenten Reihe, tanzt aus dieser aber zugleich etwas heraus. In ihren Stücken macht sich mit bildgewaltigen Erzählungen die keltische Lust am Fabulieren bemerkbar, und das Latino-Erbe schlägt mit spanischen Texten und ungewöhnlichen Rhythmen durch. Dazu kommt eine Prise Chanson und klassische Musik, die sie schon in ihrer Jugend in einem Chor kennenlernte.

Energie einer fremden Umgebung

Mit ihrem zweiten Album "La Boca" hat Alejandra Ribera ihre eigene Stimme gefunden. Für die Aufnahmen in Montreal stand ihr mit dem Produzenten Jean Massicotte einer der großen Klangkünstler Kanadas zur Seite, verantwortlich unter anderem für CDs von Lhasa, Arthur H und Patrick Watson. Auch die Mitmusiker stammen teilweise aus Lhasas ehemaliger Band, allen voran der Gitarrist Yves Desrosiers. Entstanden waren die zwölf Songs jedoch zuvor auf Reisen durch Spanien, Schottland, die Slowakei und Frankreich: "In 'La Boca' steckt die Energie von jemandem, der in einer fremden Umgebung hyperaufmerksam ist, in verdichteter Form visuelle, emotionale und spirituelle Eindrücke empfängt," sagt Ribera.

Songzyklus in drei Sprachen

Ihre Kompositionen hat Alejandra Ribera auf Englisch, Spanisch und Französisch verfasst, und es scheint, als schlüpfe sie je nach Sprache in eine andere Haut. "Wenn ich auf Spanisch singe, dann verwende ich meine tiefsten Stimmenregister, auf Französisch dagegen klinge ich eher mädchenhaft. Ich finde es faszinierend, wie das meine verschiedenen Persönlichkeiten unterstützt." Über ein ganzes Jahr zogen sich die Aufnahmen hin. In den akustischen Arrangements hört man Gitarren, Bass, Piano, Blechbläser, Klarinette, Harfe und Bagpipes. Besonders gefeilt hat sie mit Massicotte aber an den Rhythmusspuren: "Wir haben fast jeden Gegenstand im Studio mit Sticks bearbeitet, Ventilatoren, Heizung, Wände, Lampen. Insgesamt ist das Album ein Ergebnis langen Marinierens und Köchelns."

Von Persephone zur Drag Queen

In "Goodnight, Persephone" kombiniert sie den Gang in die Unterwelt mit irischem Dudelsack, "No Me Sigas" berichtet mit viel Latino-Flair über die notwendige Loslösung von einer Liebe. "I Want", der unbestreitbare Hit des Albums erzählt davon, wie man sich aus einer dunklen Lebenssituation befreien kann: Man stellt sich vor, was man sich für die Zukunft wünscht und worauf man sich freut. Einen fast schon verruchten Ton à la Tom Waits schlägt "Bad Again" an: "Ich stellte mir hier eine gealterte, müde, verbitterte Drag Queen vor, die rauchend vor dem Schminkspiegel sitzt. Es ist ein Song über den Zustand, in dem du bist, wenn du eine Woche lang zu viel getrunken hast und dich an die falschen Leute drangehängt hast, obwohl du wusstest: Das geht nicht gut!"

Die Proclaimers in Zeitlupe

Auch die ruhigen Lieder sind ein Erlebnis: In "St. Augustine" ruft Alejandra Ribera den Heiligen Augustinus an, "Un Cygne, La Nuit" ist ein bewegendes Duett mit Arthur H, gewidmet der Erinnerung an die letzte Lebenswoche einer Freundin. Und im Finale noch eine dicke Überraschung: Ihr schottisches Erbe frischt sie hier mit dem Proclaimers-Hit "500 Miles" auf, den sie allerdings drastisch entschleunigt. Ohne Übertreibung lässt sich sagen: "La Boca" ist einer der erstaunlichsten Songzyklen des Jahres 2015, mit Farben aus drei Kontinenten. Mit diesen Songs will Alejandra Ribera nun von ihrer neuen Wahlheimat Paris aus Europa erobern.


Stand: 14.12.2015, 00.00 Uhr